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Victor: Ich will sicher nicht immer der Mittelpunkt sein

Ich habe 1999 einen Verkehrsunfall gehabt. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs in Amsterdam, wo ich gewohnt habe; dort ist jemand von links gekommen und hat mich überfahren, hat mir die Vorfahrt genommen. Ich war drei Monate in Amsterdam im Krankenhaus und danach kurz in einer Reha-Klinik. Da die allgemeine Atmosphäre dort sehr negativ war, haben meine Eltern sich entschieden mich in eine Reha-Klinik in Deutschland zu bringen. Mein Vater ist Deutscher, und meine Eltern wohnen schon seit längerer Zeit in Deutschland. Ich habe auch die deutsche Staatsangehörigkeit, deshalb habe ich auch gar kein Problem, hier in Deutschland zu wohnen und zu leben.

Ich habe hier sieben Monate in der Reha-Klinik verbracht. Für mich war das Wichtigste, dass ich aus rein psychologischen Gründen nicht mehr zurückwollte nach Amsterdam. Weil -  die Erinnerungen stecken schon in meinem Kopf. Alles in allem habe ich mich entschieden: OK“ wenn ich dann zurück ins Leben einsteige – weil, du bist natürlich für längere Zeit ziemlich weit weg vom Fenster -, dann will ich das auch in einer neuen Umgebung. Dann habe ich gesagt, jetzt reicht es, jetzt möchte ich ganz gerne wieder selbstständig sein, weil in einer Klinik zu leben, das ist wesentlich anders. Und ich war auch immer schon sehr selbstständig. Und da habe ich mir eine Wohnung gesucht gleich bei Heidelberg.

Es ist ganz komisch, aber wenn du so bist wie ich, so doppeloberschenkelamputiert, dann musst du eigentlich alles neu entdecken, z.B. Einkaufen im Supermarkt. Wenn du das erste mal in den Supermarkt  reingehst, dann ist das eine psychologische Schwelle,, die du überwinden musst. Ich habe einen Spielfilm im Fernsehen gesehen, und da hast du jemanden gesehen in meinem Alter, der war querschnittsgelähmt ab seiner Mitte, und das finde ich mehr oder weniger vergleichbar. Und er hat dann auch eine eigene Wohnung gehabt und gemalt, seine eigenen Hobbys gehabt und seinen eigenen Wagen, und fährt überall so hin und sagt auch eigentlich: Leckt mich alle, sozusagen, ich mach jetzt weiter und mach das, wie ich es mache, und wenn ich Hilfe brauche, dann nehme ich Hilfe in Anspruch. Und wenn nicht, dann komme ich auch so zurecht. Und mir war klar, wenn er das kann, dann kann ich das auch. Und dann bin ich wieder schwimmen gegangen usw., usw.

Mir ist aufgefallen, dass viele Leute eine Schwelle gegenüber Menschen mit Behinderungen  haben. Man sieht immer nur das Negative. Siehst du jemanden im Rollstuhl, ist das auch immer jemand, der auf einer Insel sitzt. Du gehst nicht so locker auf diese Person zu wie auf andere Leute, die gehen können. Kinder gehen da eher unbefangen mit um: Es passiert mir fast täglich, ohne Witz, dass ein Kind irgendwo auf mich zu kommt, im Schwimmbad, im Supermarkt oder am Flughafen, wo auch immer, und meist sind es Jungens übrigens, schauen mich an und fragen dann einfach so: Wo sind deine Beine? Punkt . Fertig. Die Eltern kommen dann sofort hinterher und:“ Ja Moment mal, dass kannst du doch nicht einfach fragen, das geht nicht.“ Diese Woche stand ich an der Kasse im Supermarkt, und da saß ein Kleiner in so einem Einkaufswagen, und der hat sich umgedreht und mich gesehen und ganz laut geschrien:“ Schau mal Mami, der Mann hat keine Beine!“ Und die Mutter hat ihm die Hand vor den Mund gehalten, dass er nichts mehr sagen sollte. Und: Jeder schaut weg. Jeder schaut weg, das ist einfach so. Punkt.  Letzte Woche, als ich im Thermalbad war – da brauche ich dir nicht zu erzählen, wie oft Kinder auf mich zukommen die dann z.B. fragen, „Äh, ja, kannst du deine Arme noch bewegen?“ oder:“ Schläfst du denn auch im Rollstuhl?“ Ich sage:“ Nein, nein ich schlafe nicht im Rollstuhl. Weil ich meine Arme bewegen kann, kann ich mich auch hinlegen.“ Solche Fragen. Und die gehen dann wieder weg, und das Problem ist für mich gelöst. Ich habe mich deshalb entschlossen, eine Präsentation für Kinder in der Schule zu machen. Da setze ich mich in die Gruppe, erzähle kurz, was mir passiert ist -  nicht zu viele grausame Details natürlich -, und dann dürfen die mich einfach alles fragen. Der Sinn dahinter ist, dass, wenn diese Kinder mal erwachsen sind, dass sie dann etwas normaler mit Behinderung umgehen können. Das Verhalten der Eltern empfinde ich als Diskriminierung. Das Beispiel aus dem Supermarkt zeigt aber, wie die Gesellschaft darauf reagiert.

Ich werde oft auch positiv diskriminiert. Ich bekomme immer extra Essen und Trinken in Kneipen, alles Mögliche. Ich bin zum Beispiel hierher geflogen. Da werde ich immer als Erster an Bord getragen, bevor die anderen Passagiere einsteigen. Da sitze ich dann, und die Leute schauen, „Ist alles in Ordnung?“ und so. „Ja alles wunderbar, haben sie eine Zeitung für mich?“ Die wollen eigentlich wissen, was mit mir denn los ist. Und ich habe auch gar keine Mühe, so ein bisschen zu erzählen. Und da habe ich heute Morgen einer Flugbegleiterin kurz die Geschichte erzählt und auch von meiner Idee mit dem Schulprojekt. Und sie war so begeistert, dass sie mir drei Dosen mit Süßigkeiten gegeben hat:“ Nicht alles auf einmal essen!“

Sehr interessant war es, als wir die Fotos gemacht haben für diese Broschüre und das Plakat in diesem Laden hier in Berlin. Da waren zwanzig Statisten in blauen Jeans und schwarzem T-Shirt dabei, und ich und noch  ein paar andere standen dort nackt herum, was unsere Verletzlichkeit symbolisieren soll. Und da habe ich mich völlig ausgezogen, und jeder hat geschaut. Jeder. Und ich hatte auch keine Probleme damit, weil ich wusste, jetzt machen wir das Plakat, um diese Distanz zu durchbrechen. Und von diesen zwanzig Leuten, die da waren, ist niemand auf mich zugekommen, um etwas zu fragen. Gar nichts. Und da habe ich Ingo, den Fotografen, darauf hingewiesen:“ Hier siehst du jetzt genau, was immer passiert.“ Und das war keine Kneipe an irgendeinem Samstagabend; die Leute sind hier, um mitzuarbeiten, diese Distanz zu durchbrechen. Ich verstehe schon, das nicht jeder gleich auf mich zukommt und sagt: Hey du, darf ich mal schauen usw. Aber auch wenn ich mal versucht habe, mal ein bisschen links und rechts zu schauen, nur so – keine Chance. Es kann ja auch sein, dass die Leute mich total unattraktiv oder uninteressant finden. Aber sobald einer denkt, der Mann ist vielleicht ganz interessant, hat halt seine Beine nicht mehr, dann könnte man doch normal Kontakt aufnehmen. Und das ist negatives Diskriminieren. Das ist etwas, wo ich schon mal öfters Mühe habe. Und das passiert mir auch öfters.

Ich erzähle aber mal eine positive Geschichte. Dieses Chatten im Internet – viele Schwule lernen sich kennen über den Chat. Besonders in so Gegenden, wo es nicht tausende Kneipen gibt wie in Berlin. Man chattet also fröhlich und lustig, man chattet ein bisschen mehr und man schickt ein Bild. Und ich schicke ein Bild wo ich hinter einem Tisch sitze und wo man nicht unbedingt sieht, was mit mir los ist. Aber irgendwann muss man das dann erzählen. Die Reaktionen sind dann schon verdammt interessant: Einer sagte z.B.:“ Nein, das kann einfach nicht sein. Du verarscht mich. Hier stimmt etwas nicht.“ Das ist Reaktion Nr.1. Reaktion Nr. 2 ist, dass die Leute einfach – es macht Klick und sie sind weg. Die Reaktion Nr. 3 ist, dass die Leute, bevor sie Klick machen, noch schreiben: „ Oh damit kann ich nicht umgehen!“ Und dann sind sie auch weg. Reaktion Nr. 4 ist Gott sei Dank am häufigsten. Diese Leute sagen dann:“ Ja, schwierig, da weiß ich nicht genau, was ich sagen soll. Und ja wie ist das passiert?“ Und da fängt dann die nächste Stufe an, und da passiert es dann oft, dass die Leute sagen:“ Ja aber du bist trotzdem nett.“ Und dann begegne ich diesen Leuten auch außerhalb des Chats. Das ist dann Glück natürlich, so bin ich vor kurzer Zeit auch wieder jemandem begegnet, und wenn es dann soweit geht, und das passiert nicht oft – und ich bin auch nicht in der Lage, wie früher diese sexuellen Eskapaden zu feiern, sozusagen, weil, ich wohne nicht mehr in so einer Großstadt, wo man kurz in eine Sauna oder einen Club gehen kann. Aber ab und zu passiert es schon mal, natürlich. Und letztlich sagen die Leute dann immer:“ Es stört mich eigentlich gar nicht, ich hatte angenommen, es würde viel schlimmer sein.“ Oder jemand sagte zu mir, und das finde ich auch einen schönen Ausdruck:“ Für mich bist du ein kompletter Mann.“ Der Punkt ist, dass ich wirklich beweisen muss, dass bei mir noch alles funktioniert. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ich muss wirklich überkompensieren.

Quelle: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.